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Aktuelles

13.04.2022

PER CRUCEM AD LUCEM - Gedanken von Kurt Kardinal Koch

PER CRUCEM AD LUCEM

Gedanken von Kurt Kardinal Koch, Präfekt des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der Christen

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1. Weg-Kreuzung im Schicksal Jesu und im Leben des Christen

Auf Ausflügen oder Wanderungen kann es leicht geschehen, dass man plötzlich vor einer Weg-Kreuzung steht, an der man sich entscheiden muss, in welche Richtung man weitergehen will. In einem übertragenen Sinn gibt es auch im menschlichen Leben immer wieder solche Weg-Kreuzungen, an denen das Leben eine andere Wendung nimmt und wir vor grundsätzliche Entscheidungen gestellt sind. Vor einer solchen Weg-Kreuzung stehen wir Christen mit dem Palmsonntag.
Um die Heilige Woche in rechter Weise begehen zu können, müssen wir unseren Blick auf Jesus richten. Denn in erster Linie ist der Palmsonntag eine elementare Weg-Kreuzung im Leben Jesu gewesen. Mit seinem Einzug in die Stadt Jerusalem hat Jesus vor der grundlegenden Entscheidung gestanden, ob er der ihm von seinem himmlischen Vater gewiesenen Richtung seiner Sendung für die Erlösung der Menschen treu bleiben wird oder ob er seinem Leben eine Wende geben will, an deren Ende nicht mehr die Erlösung der Menschen, sondern seine eigene Grösse stehen würde. Der Palmsonntag führt uns vor Augen, dass sich Jesus entschieden hat für den Weg der bleibenden Treue zum Erlösungsprogramm Gottes mit allen seinen radikalen Konsequenzen. Diesen Weg hat Jesus deshalb gewählt, weil es auch der ewige Weg Gottes mit uns Menschen ist. Denn im Herzen Gottes will sich die Erlösung der Menschen nicht in erdrückender All-Macht, sondern in mitleidender Ohn-Macht ereignen.
Was der Evangelist mit der Schilderung des Einzugs Jesu in Jerusalem uns nahe bringen will, dies verdichtet Paulus in seinem Brief an die christliche Gemeinde in Philippi zu einer einzigen göttlichen Bewegung: Jesus Christus „war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäusserte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2, 6-8). Wenn wir diese tiefen Worte bedenken, werden wir nicht nur im Kopf, sondern vor allem auch im Herzen nachvollziehen können, warum die Kirche diesen vorpaulinischen Christushymnus, den Paulus in seinem Brief aufgenommen hat, in den Mittelpunkt der Liturgie an den Kartagen gestellt hat. Denn in diesem Hymnus ist das ganze Pascha-Mysterium und damit auch das Geheimnis des Erlösungsgeschehens im Kern enthalten.

2. Dunkle und helle Seite des Karsamstags

Wenn wir in unsere Welt und Kirche hinein schauen, dann legt es sich uns nahe, in der Heiligen Woche in diesem Jahr unsere Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf das Geheimnis des Karsamstags zu lenken. Denn er ist der Tag, der unserer Lebenssituation am meisten entspricht. Die lang andauernde Pandemie, die unsere eingespielten Lebensgewohnheiten in radikaler Weise in Frage gestellt hat, die schreckliche Tatsache, dass in Europa wiederum Krieg ausgebrochen ist, die vielen Krisenerscheinungen in Politik und Wirtschaft und die schwierige Situation unserer Kirche heute zeigen, dass wir weithin am Karsamstag und damit vor der Schwelle zu Ostern leben.
„Gottesfinsternis“ dürfte das präzise Wort für diesen Tag sein. Jesus ist in unsere Welt gekommen, um den lebendigen und liebenden Gott in unsere Welt zu bringen und sein Reich des Friedens, der Gerechtigkeit und der Liebe anzusagen. Nun aber ist Jesus tot und ist begraben worden. Im Grab Jesu sind auch die grossen Hoffnungen, die die Jünger auf Jesus als den gekommenen Messias gesetzt haben, mit begraben. Auch Gott, sein treuer und barmherziger Vater, scheint Jesus nicht zu retten: ihn, der sich allein Gottes Sohn nennen durfte. Tag des Begräbnisses Gottes: Das ist der Karsamstag.
Der christliche Karsamstag aber spricht uns die tröstliche Wahrheit zu, dass Jesus in seinem Tod in dieses Reich des Todes und in die Hölle der Einsamkeit und Beziehungslosigkeit gegangen ist, um die Gegenwart Gottes und seiner Liebe in dieses Reich hinein zu bringen. Dieses Geschehen hat auch das Reich des Todes in einen neuen Ort des Lebens verwandelt, weil das Undenkbare und Unerwartbare geschehen ist, dass Gott selbst in das Reich des Todes vorgedrungen ist und den Wärmestrom seiner Liebe hat hinein fliessen lassen. Dadurch, dass Jesus auch in die eiskalte Region des Todes das warme Wort der Liebe Gottes gebracht hat und in das Niemandsland einer letzten Einsamkeit eingetreten ist, ist die Hölle der Einsamkeit aufgesprengt und der Tod bereits im Kern überwunden. Seither gibt es Ostern mitten im Karsamstag: „Seitdem es die Anwesenheit der Liebe im Raum des Todes gibt, gibt es Leben mitten im Tod.“

3. Tod mitten im Leben und Leben mitten im Tod

Dass wir mitten im Leben unausweichlich mit dem Tod umfangen sind, ist die harte Wahrheit des menschlichen Lebens. Dass es aber bei dieser trostlosen Wahrheit nicht für immer sein Bewenden haben muss, darin besteht die frohe und tröstliche Verheissung des christlichen Glaubens. Dieser Glaube hat die Kraft, uns Menschen noch eine ganz andere Wahrheit zuzusprechen. Er hat das Recht und den Mut, die unbestreitbare Wahrheit des alten Chorals, dass wir mitten im Leben mit dem Tod umfangen sind, umzukehren und gleichsam auf den Kopf zu stellen, indem er uns die viel grössere Verheissung zuspricht, dass wir mitten im Tod mit dem Leben umfangen sind: mit dem befreienden und ewigen Leben Gottes. Mitten im Tod gibt es Leben, weil Gott Jesus, seinen geliebten Sohn, nicht im Tod gelassen, sondern ihm neues Leben geschenkt hat.
Mit Ostern steht und fällt der christliche Glaube. Ostern ist deshalb das grösste von allen christlichen Festen, das mit Freude gefeiert wird. In die österliche Freude über den Sieg des Lebens über den Tod, wie er in der Auferstehung Jesu Christi sichtbar und wirksam geworden ist, kann man aber nur ehrlich einstimmen, wenn man zuvor mit Jesus die Versuchungen in der Wüste erfahren, mit Jesus den Weg nach Jerusalem mitgegangen, am Ölberg in der Nacht vor seinem Leiden mit ihm gewacht und inständig gebetet, in tiefer Traurigkeit in der Nähe seines Kreuzes am Karfreitag gestanden und sein Totsein am Karsamstag ausgehalten hat. Nur so ist die Heilige Woche ein Weg „per crucem ad lucem“, durch das Kreuz zum Licht.
Angesichts von Ostern, das Gott bewirkt hat, leben wir freilich auch als Christen weiterhin am Karsamstag. Aber wir dürfen an einem österlich erhellten und verwandelten Karsamstag leben. Denn inmitten des Karsamstags bricht bereits das Licht der Auferstehung, das Licht der Osternacht hindurch. Unser Leben steht zwar noch nicht im vollen Licht von Ostern; aber wir dürfen vertrauensvoll und in tragfähiger Hoffnung auf Ostern zugehen.

4. Erlösung durch die Liebe Christi am Kreuz

Es ist die helle Seite des Karsamstags, die bereits den innersten Kern des Karfreitags vor unserer Augen zu bringen vermag. Dieser Tag mutet uns zu, in neuer Weise zu erkennen, dass Liebe und Kreuz keinen Gegensatz darstellen, sondern unlösbar zusammengehören. Denn die christliche Botschaft vom Kreuz ist eindeutig eine Botschaft von Liebe und Erlösung, und unser menschliches Erlöst-Sein besteht in unserem Geliebt-Sein. Das Kreuz Jesu offenbart uns die Logik seiner radikalen Liebe und zeigt uns, dass der Gute Hirte selbst dann nicht von seiner barmherzigen Suche nach dem Verlorenen ablässt, wenn die bösen Mächte in den Menschen voll entbrennen und den Guten Hirten selbst treffen. Der Kreuzestod Jesu offenbart uns das konsequente Handeln eines grenzenlos liebenden Guten Hirten, der uns Menschen bis in die tiefsten Abgründe und verborgenen Katakomben eines durch-Kreuz-ten Lebens nahe sein will, um uns mit seiner Liebe zu erlösen.
Wir sind erlöst, weil wir geliebt sind: Dies ist die Botschaft des Kreuzes am Karfreitag. Menschlich betrachtet ist das Kreuz der Pfahl des Todes. Mit den Augen Gottes betrachtet ist es der neue Baum des Lebens, des endgültigen Lebens, das nur Gott geben kann und für das er einen hohen Preis, nämlich die Hingabe seines eigenen Sohnes, bezahlt hat. Denn das neue und wahre Opfer Jesu Christi besteht in der Selbstgabe des Sohnes an seinen Vater für uns Menschen. Ihm konnte es nicht genügen, Gott irgendwelche materiellen Opfer darzubringen, Tieropfer und Sachopfer, wie dies im Jerusalemer Tempel der Fall gewesen ist. Jesus hat nicht irgendetwas, sondern sich selbst dargebracht. An die Stelle der Tieropfer im Tempel ist deshalb die neue Liturgie getreten, die Christus am Kreuz seinem Vater dargebracht hat und die im Sich-Selbst-Geben für uns Menschen besteht. In dieser neuen Liturgie gibt es keinen Ersatz durch Tieropfer mehr, sondern nur Einsatz des eigenen Lebens.

5. Teilhabe an der eucharistischen Selbstgabe Jesu

Auf diesen Ernst der eucharistischen Lebenshingabe Jesu am Kreuz macht die Messe vom Letzten Abendmahl am Hohen Donnerstag eindringlich aufmerksam. Das Letzte Abendmahl Jesu am Hohen Donnerstag und der Kreuzestod Jesu am Karfreitag gehören von daher unlösbar zusammen. Denn ohne das Kreuz wäre die Eucharistie ein blosses Ritual; und ohne die Eucharistie wäre das Kreuz bloss ein grausames profanes Geschehen. Ohne den Tod am Kreuz wären die Abendmahlsworte Jesu letztlich eine Währung ohne Deckung; umgekehrt wäre ohne die Abendmahlsworte Jesu sein Kreuzestod eine blosse Hinrichtung ohne jeden erkennbaren Sinn. Sinn gewinnt der Kreuzestod Jesu vielmehr nur aufgrund der Wandlung des Todes in Liebe von innen her, wie der Heilige Ephräm der Syrer tiefsinnig bemerkt hat: „Beim Abendmahl opferte Jesus sich selbst; am Kreuz wurde er von anderen geopfert.“ Ephräm hat damit zum Ausdruck gebracht, dass niemand Jesus das Leben nehmen konnte, ohne dass er es selbst aus freiem Willen hingegeben hätte: Er, der die Macht hatte, es hinzugeben und es wieder zu nehmen.
Der unlösbaren Verbindung von Kreuzestod und Eucharistie können wir nur gerecht werden, wenn wir bei der Darbringung der eucharistischen Gabe nicht aussen vor bleiben, sondern uns in diese Darbringung persönlich hineinnehmen lassen und selbst eine lebendige Opfergabe werden, wofür wir im eucharistischen Hochgebet, besonders deutlich im vierten, beten: „Sieh her auf die Opfergabe, die du selber deiner Kirche bereitet hast, und gib, dass alle, die Anteil erhalten an dem einen Brot und dem einen Kelch, ein Leib werden im Heiligen Geist, eine lebendige Opfergabe in Christus, zum Lob deiner Herrlichkeit.“

6. Priesterlicher Dienst an der Eucharistie

Was von jedem Getauften zu sagen ist, gilt erst recht vom Priester, der in der Feier der Eucharistie beauftragt und bevollmächtigt ist, mit dem Ich Christi zu sprechen. Er ist in besonderer Weise verpflichtet, Jesus Christus immer besser gleich gestaltet und selbst immer mehr ein eucharistischer Mensch zu werden, und zwar in der Gemeinschaft mit seinem Bischof, da er nur in Einheit mit ihm Eucharistie feiern kann und mit dem er in „sakramentaler Bruderschaft“ verbunden ist. Hier leuchtet der tiefe Grund auf, dass in der Heiligen Woche der Bischof mit seinem Presbyterium die Chrisam-Messe feiert und alle gemeinsam ihre Weiheversprechen erneuern, um so innerlich vorbereitet die Heiligen Geheimnisse mit dem Volk Gottes zu feiern.
Die Eucharistie, in deren besonderem Dienst der Priester steht, weist nicht nur zurück auf den Karfreitag, an dem Christus sein Leben eucharistisch verschenkt hat, sondern sie weist auch voraus auf Ostern und schenkt Anteil an der Auferstehung des Herrn. Seit den Apostolischen Anfängen der Kirche bildet der Tag der Auferstehung den inneren Raum der Eucharistie und gehören Sonntag als Tag der Auferstehung und Eucharistie als Feier der Gegenwart des auferstandenen Herrn unlösbar zusammen.

7. Österlicher Ernstfall des Gottesglaubens

Die Feier der Eucharistie weist auf den alles entscheidenden Ernstfall des christlichen Glaubens hin und feiert ihn zugleich, nämlich den österlichen Sieg des Lebens über den Tod. Der frühen Kirche ist ganz und gar bewusst gewesen, dass der Glaube an die Auferstehung Jesu Christi aus dem Tod in das neue und ewige Leben bei Gott den Kerngehalt ihres Glaubensbekenntnisses bildet und dass es sich bei ihm nicht bloss um einen mehr oder wenigen wichtigen Zusatz zu ihrem Gottesglauben handelt, sondern um seine Radikalisierung selbst, gleichsam um die entscheidende Feuerprobe, die er zu bestehen hat.
Der christliche Auferstehungsglaube macht vor allem radikal Ernst mit dem Glauben an Gott. Was wäre dies denn für ein Gott, der Jesus, seinen eigenen Sohn, der die Liebe seines Vaters zum Leben verkündet hat, im Tode gelassen hätte? Was wäre dies für ein Gott, der die Glaubenden, die seinem Sohn nachgefolgt sind und seiner Verheissung des Lebens in Fülle vertraut haben, die Erfüllung ihrer Hoffnung vorenthalten würde? Und was wäre dies für ein Gott, der uns Menschen nur Zeit unseres relativ kurzen Lebens auf der Erde die Treue halten, der aber vor unserem Sarg kapitulieren und uns beim Tod die Treue aufkündigen würde? Dies wäre gewiss ein erbärmlicher Götze, nicht aber der Gott des Erbarmens, den der christliche Osterglaube verkündet, indem er bekennt, dass Jesus wirklich auferstanden ist, da die Macht Gottes bis in seinen Leib hinein reicht. Denn der Gott, der seinen Sohn aus dem Tod ins neue Leben hinein geholt hat, ist derselbe Gott, der die materielle Welt aus dem Nichts erschaffen hat. Ostern verkündet, dass Gott dem Tod nicht das letzte Wort zugesteht, dass er es vielmehr zum zweitletzten Wort depotenziert und sich das letzte Wort vorbehält, das Leben heisst.

9. Persönliche Erfahrung von Ostern

Dies wird besonders deutlich an der Gestalt der Maria von Magdala, die im Mittelpunkt des Osterevangeliums (Joh 20, 1-18) steht. Von ihr wird erzählt, dass sie „frühmorgens, als es noch dunkel war“, zum Grab Jesu geht. Sie nimmt zwar wahr, dass der Stein vom Grab weggewälzt ist, aber ihr einziger Gedanke ist, dass man den Leichnam Jesu weggenommen hat. Von Ostern ist da überhaupt nichts zu spüren. Maria hat die Schwelle zu Ostern noch nicht überschritten; sie lebt noch am Karsamstag. Dies zeigt sich vor allem darin, dass sie Jesus bei den Toten sucht und gar nicht merkt, dass der Auferstandene vor ihr steht.
Die Augen für die Gegenwart des Auferstandenen gehen ihr erst auf, als Jesus sie anspricht und sie bei ihrem Namen nennt: „Maria!“ Jesus sagt nur dieses eine Wort: „Maria!“ Weder hält er eine dogmatische Belehrung noch gibt er eine moralische Ermahnung. Nein, er nennt Maria nur mit ihrem Namen; und dies genügt: „Da wandte sie sich ihm zu und sagte auf hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heisst: Meister.“ Genau hier und genau so ereignet sich Ostern. Maria sucht den Lebenden bei den Toten und macht die Erfahrung, dass der Lebende sie jenseits der Todesgrenze, nämlich von der Zukunft Gottes her, beim Namen ruft. Im buchstäblichen Sinne „namentlich“ beginnt bei Maria der Osterglaube.
Auch bei uns Christen heute kann es sich nicht anders verhalten. Ostern beginnt genau da, wo wir uns vom Auferstandenen beim Namen gerufen wissen. Von daher kann ich Ihnen keinen besseren Wunsch in die kommende Heilige Woche hinein mitgeben als den, dass Ihnen eine persönliche Begegnung mit dem Auferstandenen wie bei Maria von Magdala zuteil werde. Nur so können auch wir Zeugen seiner Auferstehung bei dem uns anvertrauten Volk Gottes sein und dieses Fest des Sieges des Lebens über den Tod in den heiligen Liturgien feiern.

c_forster - 16:47 @ Sonstiges | 1 Kommentar